24. Oktober 2022 Wetter & Jahreszeiten

Interview: Der Urwald von Morgen

Der Fabiennesteig ist ein Waldabschnitt in der Nähe von Darmstadt, der nach dem Sturm Fabienne 2018 sich selbst überlassen wurde. Wie sieht es dort heute aus? Und warum sind Naturwälder wichtig für uns? Das erklärt Hartmut Müller vom Forstamt Darmstadt.

Hartmut Müller ist seit 2008 Forstamtsleiter in Darmstadt. Er betreut dort eine Waldfläche, die so groß ist wie 15.000 Fußballfelder. Zu dem Gebiet gehört der Fabiennesteig, ein ganz besonderer Erkundungspfad im Wald. Mit ÖkoLeo hat Herr Müller darüber gesprochen, was Stürme im Wald anrichten können, und warum es sinnvoll sein kann, den Wald nach so einem Extremwetterereignis sich selbst zu überlassen.

Aufnahme des Fabiennesteigs mit einer Holzbrücke über einen umgefallenen Baumstamm.
Wie sieht der Wald nach einem Sturm aus? Das zeigt der Erlebnispfad "Fabiennesteig". (Bild: ©Nicolas Weil)


ÖkoLeo: Was ist in dem Waldabschnitt rund um den Fabiennesteig passiert? 

Herr Müller: Im September 2018 ist der Gewittersturm "Fabienne" über den Wald mit vielen Eichen und Buchen hinweggezogen. Die Bäume waren teilweise schon über 200 Jahre alt. Der schwere Sturm hat viele Bäume entwurzelt, andere sind abgebrochen. Teilweise lagen mehrere Bäume übereinander. Der Sturm Fabienne hat dem Pfad seinen Namen gegeben.

Buchen bilden eher flache Wurzeln, um sich im Boden zu verankern und Nährstoffe aufzunehmen. Nach dem Sturm konnte man erkennen, dass die Buchen samt der Tellerwurzeln umgekippt sind.

Eichen hingegen bilden sogenannte Pfahlwurzeln, die tief in den Boden gehen. Die Eichen konnten sich so kaum im Wind bewegen und sind abgebrochen. 

ÖkoLeo: Wie können wir uns den Fabiennesteig vorstellen? Was gibt es dort zu sehen? 

Herr Müller: Der Fabiennesteig ist ein etwa 800 Meter langer Waldpfad durch einen Abschnitt, der besonders vom Sturm 2018 getroffen wurde. Kinder und Erwachsene können den Pfad besuchen. Es gibt viel zu entdecken. Dort liegen umgeknickte und entwurzelte Bäume, die sich beim Sturm nicht mehr halten konnten. Ein Seil, das entlang des Weges gespannt wurde, zeigt den Weg durch den Wald. An einigen Stellen kann man sogar über umgefallene Bäume klettern.

Ein waagerechter Baum zum Drüberlaufen, an dessen Seite mehrere Seile zum Entlanggehen befestigt sind.
An diesem Baumstamm sind gute Balancierfähigkeiten gefragt. Das Seil hilft dabei, nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen, während man über den umgestürzten Baum klettert. (Bild: © Matthias Kalinka)


Da der Wind 2018 nicht nur aus einer Richtung gekommen ist, sondern ständig gewechselt hat, liegen die Bäume kreuz und quer übereinander. Auch abgebrochene Äste sind zu sehen. 

ÖkoLeo: Warum wurde der Wald nach dem Sturm nicht aufgeräumt? 

Herr Müller: Die Waldfläche ist eine sogenannte "Naturwaldentwicklungsfläche". Dort wollen wir beobachten, wie der Wald sich entwickelt, wenn wir ihn in Ruhe lassen. Daher nennen wir ihn auch "Urwald von Morgen". In ein paar Jahren können wir sehen, welche Tiere, Pflanzen und andere Lebewesen ohne menschliches Eingreifen dort vorkommen.

ÖkoLeo: Welche Lebewesen gibt es dort? 

Herr Müller: Es gibt hier viele verschiedene Tier- und Pflanzenarten. So leben hier verschiedene Spechtarten, die sich Höhlen in das morsch werdende Holz bohren. Auch seltene Käfer wie der Hirschkäfer oder der Eremit leben in dem toten Holz. Rehe und Wildschweine finden bei den umgekippten Bäumen gute Verstecke. Viele besondere Pilzarten, die das Holz zersetzen können, haben sich hier auch angesiedelt. 

Ein Buntspecht sitzt an einem Ast und ist aus dem Profil aufgenommen.
Der Mittelspecht bewohnt sonnige Laubwälder mit alten Eichen und Buchen. Auch im Totholz zimmert sich gerne seine Bruthöhle. (Bild: Foto: Simon Speich / Wikimedia.org / CC BY-SA 4.0)


ÖkoLeo: Warum sind naturbelassene Wälder wichtig für die Umwelt

Herr Müller: Zum einen können wir Försterinnen und Förster hieraus viel lernen. Was müssen wir tun, um den Wald zu pflegen und zu gestalten? Was macht der Wald von ganz alleine?

Zum anderen bieten solche "Urwälder von Morgen" Lebensräume für Tier- und Pflanzenarten, die im "normalen Wald" nur selten anzutreffen sind. Das liegt daran, dass es dort seltener alte oder abgestorbene Bäume gibt. Diese bieten aber wichtige Lebensräume für viele Tiere, Pilze und Pflanzen.   

ÖkoLeo: Wie verändert sich die Natur dort? Wie könnte der Fabiennesteig in 20 Jahren aussehen? 

Herr Müller: Zunächst ist es ein sehr großer Verlust für den Wald, wenn so viele alte Bäume auf einen Schlag zerstört werden. Viele Lebewesen verlieren so ihren Lebensraum.

Jedoch bietet Totholz, also das Holz der abgebrochenen oder umgeknickten Bäume, neue Möglichkeiten. Andere Lebewesen können nun hier leben. Besondere Pflanzenarten können durch den größeren Lichteinfall jetzt erst wachsen, wie zum Beispiel Brombeere, Waldmeister und verschiedene Gräser und Moose.

Schnell wachsende Bäume, wie die Birke, haben nun auch eine Chance, sich dort auszubreiten. Solche Bäume nennt man Pionierbäume, weil sie als erste Bäume auf freien Flächen wachsen. In ihrem Schutz siedeln sich mit der Zeit auch weitere Baumarten an, wie etwa Linde, Bergahorn oder Buche.

Auf diese Weise entsteht aus dem zerstörten Waldgebiet mit der Zeit ein neuer wertvoller Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Wie genau der Fabiennesteig in 20 Jahren aussehen wird, wissen wir aber nicht. Das wird die Natur uns zeigen.

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